02/07/2024 0 Kommentare
3. Sonntag nach Trinitatis
3. Sonntag nach Trinitatis
# Andacht
3. Sonntag nach Trinitatis
Ich höre Stimmen!
Neulich traf ich nach langer Zeit mal wieder meinen alten Freund, den Herrn A. Wir freuten uns und setzen uns auf einen Kaffee zusammen und redeten über dies und das. Nachdem wir einander alles erzählt hatten, sagte ich zu ihm, wie es mich belastet, dass ich so viele Stimmen höre. „Echt jetzt?“ fragte er, „Du hörst Stimmen?“ Warst du denn schon beim Arzt?“ Ich lache und sage, dass ich was anderes meinte!
Ich habe seit längerem den Eindruck, dass jeder auf mich einredet. Es ist ein regelrechtes Stimmengewitter, dass Tag für Tag auf mich einstürmt: Es geht uns schlecht! Du musst dich einsetzen für die Gesellschaft! Du musst das Klima retten! Du musst dich gesund ernähren! Du darfst keine rechtsradikale Partei wählen! Du musst auf Gott vertrauen und beten! Die Regierung muss weg! Die Ausländer ruinieren uns! Es wird ein Hitzesommer! Es geht uns schlecht! Du darfst keine Plastiktüten benutzen! Wir haben keine Arbeit! Die Hochwasserwelle überrollt uns! Das Bürgergeld ist zu niedrig! Deutschland schafft sich ab! Wir müssen das Asylchaos stoppen! Du musst deine altmodische Sprache ändern und die Gender-Regeln beachten! Wir müssen uns unser Land zurückholen! Du musst nur an Gott glauben! Europa muss weg, wir brauchen ein starkes Deutschland! Mehr Fahrrad, weniger Auto! Gerechtigkeit für alle! Vielfalt statt Einfalt! Man darf Putin nicht isolieren! Du musst abnehmen! Die Ukraine muss den Krieg beenden! Starke Familien, starkes Land! Der Mindestlohn muss rauf! Es geht uns schlecht!
Jeder hat irgendwie eine „Mission“ und vertritt seine Meinung lautstark und aufgeregt. Das ganze Leben scheint manchmal nur noch aus Überschriften und Schlagzeilen zu bestehen. Es ist gar keine Zeit mehr, sich gründlicher mit etwas zu beschäftigen. Dabei wäre es doch total spannend, mal nachzuforschen, wer wo was einfach nur weitersagt oder wer die vielen gefakten Bilder produziert. Warum kriege ich eigentlich dauernd sowas geschickt? Manche Menschen meide ich inzwischen, weil ich deren „Missionseifer“ nicht mag. Ich will nicht dauernd von irgendjemandem von irgendwas überzeugt werden! Ehrlich, das nervt!
Vorgestern bin ich mit dem Rad nach Langenweddingen gefahren. Zwischen Welsleben und Sülldorf bin ich kurz abgestiegen. Es war so herrlich still! Naja, nicht wirklich: Der Wind pfiff mir um die Ohren, die Lerchen sagen ein Lied, Klatschmohn und Gerste tanzten miteinander. Wie schön! Endlich Ruhe …
Manchmal geht es mir auch in der Kirche so. Da ist oft so eine merkwürdige Stille, die Weltgeräusche sind weit weg. Wenn niemand auf mich einredet, wenn mich niemand von etwas überzeugen will, wenn mir keiner seine Überzeugung aufdrängt, gehts mir gut. Dann kann ich auch die leise Stimme Gottes hören, wenn er zu mir solche Sachen sagt wie: Ich hab dich lieb. Ich lasse dich nicht im Stich. Ich kenne dich. Ich sorge für dich. Ich habe dich erlöst. Ich will dich segnen. Ich bin bei dir bis ans Ende Welt.
Ich wünsche Ihnen allen viel Kraft, die Stille auszuhalten und auf Gott zu lauschen!
Ihr Pfarrer Johannes Beyer (Pfarrbereich Schönebeck-Stadt)
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