Leseandacht,

12.10.2025
Andacht zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Ein Blick und Ohr für starke Gefühle

Lege mich wie ein Siegel
auf dein Herz
wie ein Siegel auf deinen Arm
Denn Liebe ist stark wie der Tod

Hohelied der Liebe 8,6

Diese Verse klingen auf den ersten Blick wie ein Schlagertext: eingängig und sentimental.
Auf den zweiten Blick sind sie jedoch tiefgründiger, gehaltvoller und sinnreicher. Und das sind sie auch!
Beim dritten Lesen fühlt sich der Text ganz hell, warm und lichtdurchflutet an. Aber was hat es mit dem Siegel auf sich? Ein Siegel auf dem Herzen?
In früherer Zeit hatte das Siegel eine tiefe Bedeutung. Verabredungen oder Verträge wurden so besiegelt – per Händedruck oder eben mit einem Siegel aus Wachs. Mit einem Siegel war die Gültigkeit bewiesen.
Heute schicken uns Firmen maschinell erstellte, unterschriebene und beglaubigte Schreiben.
Siegel werden vorrangig von Gerichten und Notariaten verwendet. Das Siegel im Hohelied der Liebe sagt mir mit unerschütterlicher Gewissheit nicht nur die Beziehung zwischen uns Menschen zu, sondern auch unsere Beziehung zu Gott.

Diese Verse, die auch gerne in einer Trauung gesprochen werden, verkünden eine große und bedeutungsschwere Kraft. Doch sie weisen weit über menschliche Beziehungen und körperliche Anziehung hinaus: Gott ist uns in seiner Liebe unendlich nahe, zu jeder Zeit. Das ist kein Kopfgedanke, sondern er spricht mich auf der Gefühlsebene an. Was wir lieben, sollte uns auch berühren. Was wir berühren, sollten wir auch lieben.

Leider beobachte und erlebe ich in meinem Umfeld weiterhin Spannung bezüglich der Frage nach dem Zusammenleben zwischen Mann und Mann, Frau und Frau, nach dem zwischenmenschlichen Beziehungen der Liebe. Es geht auch darum Liebe zu zulassen – auch in und und unter schwierigen Bedingungen.Viele Menschen meinen, sofort etwas dazu sagen zu müssen. Ganz ehrlich, ich höre dazu auch viele unschöne und verächtliche Kommentare. Oft genug spüre ich dann in solchen Momenten eine Überrumpelung, anstatt deutlich meine persönliche Meinung mein Statement zu sagen zu können. Da nützt dann auch nicht der Aufkleber „Vielfalt ist göttlich“ nichts. Ein richtiges Gespräch mit Ausgleich, Aushalten, Toleranz und Bearbeitung fehlt mir. Druck! Eigentlich habe ich doch alles, was ich brauche, um Widerstand, freien Willen und Gleichheit zu haben. Trotzdem ist dieser Überfluss an Gleichheit (gefühlt) auf dem Rückzug.
Gottes Liebe will nicht, dass Menschen leiden und ihrer Meinung hinterm Berg halten, sondern dass sie sich frei in ihrer Liebe und ihren Lebensvorstellungen äußern dürfen – und das mit der Zeit, die sie brauchen. Ich wünsche mir Plattformen, in denen wir uns über unsere Vorstellungen von Beziehungsformen unterhalten, in denen Wahrnehmungen ausgetauscht werden, in denen wir einander zuhören und in denen wir den (mir oft zu eindimensional genutzten) Argumenten nicht schlagend zuhören, sondern vielmehr unsere eigene persönliche Meinung sagen können. Ist das nicht auch ein Auftrag meiner Kirche und wie wäre der zu fassen?
Ich bin mir sicher, dass wir damit Gottes Sendefrequenz viel deutlicher und rauscharmer empfangen würden. Was für ein Potenzial an Glaubensfreiheit. Bei Gott muss ich keine Fassade aufrechterhalten, ich darf mich frei äußern und mein Umfeld positiv verändern. Auch das sehe ich im Hohelied der Liebe besiegelt und empfinde es als eine starke seelsorgerische Zusage. Die Zusage Gottes und seine Siegel möchte mir Sicherheit für den Rest meines Lebens geben.
„Denn Liebe ist stark wie der Tod“ und „Liebe ist alles“ (Rosenstolz)
Diese Zusage gibt mir persönlich Kraft und kann mich aus allem was mich stört herausheben und versöhnen.

Herzliche Grüße,

Ihr Carsten Miseler Kantor in Schönebeck